Sich Gedanken machen –

während des Radelns


Zielgruppe: Jgst. 10–Q4 | von Uli Hraský

Zunächst erscheinen die Sommerferien endlos lange, doch plötzlich kommt der Zeitpunkt, an dem man realisiert, dass es nur noch wenige Tage sind, bis der Alltag wieder beginnt. — Das Wetter soll angenehm werden, ich beschließe deshalb die verbleibende Zeit zu nutzen: Eine Radtour, alleine und ohne Planung – das ist die erste Idee. Naja, eine grobe Richtung muss ich festlegen. Da es noch Sparpreis-Tickets nach Hamburg gibt, buche ich eine ICE-Karte und habe mich damit für den Norden entschieden. Und dann? Auf der Landkarte sehe ich mich um: Glückstadt, das klingt nach einem glücklichen Beginn für eine Radtour. Ich packe eine kleine 12-Liter-Radtasche mit dem Nötigsten und starte am übernächsten Morgen. Da ich ein Faltrad nutze, kann ich es im Kofferfach des Zuges verstauen und bin nicht auf die wenigen ICE-Radplätze angewiesen, die man niemals so kurzfristig buchen könnte. Am späten Vormittag steige ich in Hamburg in den Regionalzug nach Glückstadt. Im Radabteil sitzt bereits ein älterer Herr mit E-Bike. Wir kommen ins Gespräch und er erzählt mir, dass er deutschstämmiger Australier ist, auf den Spuren von Felix Mendelsohn Bartholdy reisend. Für die nächsten Tage plant er eine Radtour am Nord-Ostsee-Kanal. Nach einer angenehmen Stunde im Gespräch steigen wir beide in Glückstadt aus und während er noch in der wunderschönen kleinen Stadt bleibt, möchte ich endlich ans Wasser: Im ICE hatte ich beschlossen, zunächst auf dem Elberadweg in Richtung Mündung zu radeln und dann auf den Nordseeradweg zu wechseln.

Hinter Glückstadt lerne ich schnell, dass es zwei Möglichkeiten gibt: Auf dem Deich, etwas mühsamer, oder bequem dahinter, dafür aber ohne Blick auf die Elbe. Manchmal gibt es auch nur einen Weg, über den die kleinen Faltrad-Räder teilweise etwas mühsam hinweghoppeln. Noch bin ich unsicher, prüfe auf dem Smartphone ob meine Orientierung verlässlich ist. Doch nach ein paar Kilometern weiß ich, welche Hinweise mich betreffen, wie gut die Beschilderung ist und wie schnell hier meine angenehme Reisegeschwindigkeit etwa sein wird.

Nach vielen Schafen, einigen Schiffen, Seezeichen und kleinen Sandbuchten taucht ein Kraftwerk auf. »Brokdorf« steht auf einem kleinen Schild. Alles ändert sich schlagartig: Brokdorf ist ein relativ großes Atomkraftwerk. [Zur Zeit der Reise war es noch am Netz.] Hier lagern atomare Abfälle und hier war in der Vergangenheit der Protest gegen die Atomkraft groß. Er wurde sogar zum Anlass, sich grundsätzlich über Versammlungsfreiheit Gedanken zu machen und diese zu schützen. Mich überfällt das Kraftwerk jedoch in anderer Form: Ich muss an die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl denken. Damals war ich außerordentlich unsicher angesichts der unsichtbaren Strahlung, die bis nach Deutschland getragen wurde. Ich war in den ersten Monaten nach dem Unglück wie entfremdet von der Natur, die ja möglicherweise kontaminiert sein konnte. Dieses Gefühl taucht wieder auf, als ich in der Nähe von Brokdorf über den Elbstrand laufe: Das selbstverständliche Genießen der Radtour gelingt mir plötzlich nicht mehr. Mir kommen die Fotos von Igor Kostin und Paul Fusco in den Sinn, welche die Katastrophe und das Leid der Menschen um Tschernobyl zeigen. Ich steige aufs Rad und beschließe relativ schnell zur See zu radeln.

Ich komme durch Brunsbüttel; dort steht ein weiteres, allerdings nach der Katastrophe von Fukushima abgeschaltetes Atomkraftwerk. Mit der Fähre geht es über den Nord-Ostsee-Kanal, danach entferne ich mich von der Elbe, biege nach Norden ab und fahre durchs Landesinnere. Die erste größere Pause mache ich in Meldorf. Dort besuche ich die gotische Backsteinkirche, deren kuppelartige Gewölbeformen mich ein letztes Mal an den Meiler in Brokdorf denken lassen: Hier etwa 800 Jahre alte Kultur und dort Abfälle, die Zehntausende von Jahren strahlen werden. Das Missverhältnis scheint mir evident, die Vorstellung, diesen Zeitraum überblicken zu können, geradezu verantwortungslos.

Endlich an der See. Nach einem Gespräch mit einem Hobby-Schatzsucher vor dem Supermarkt in Meldorf, der mir stolz am Strand gefundene Ringe und Ketten zeigte, und einigen Kilometern Radweg zwischen Feldern, stehe ich auf dem Deich und schaue auf das Wattenmeer. Am Horizont sehe ich Büsum, den Ort, an dem ich übernachten will. Der Anruf bei der Jugendherberge ist ernüchternd: Kein Platz und ein leises Unverständnis darüber, dass ich nicht längerfristig reserviert habe. Aber immerhin bekomme ich eine Adresse und dort, in einem einfachen Hotel, schließlich auch ein Zimmer. Mir wird klar, dass ich doch einen Schlafsack hätte mitnehmen sollen, dann wäre ich deutlich unabhängiger gewesen.

Auf dem letzten Kilometer nach Büsum häufen sich die Menschen und die Verbote: Absteigen am Strandbad und dann ein generelles Radverbot auf dem Deich. Der Ort bleibt seltsam verdeckt hinter Fischbrötchen- und Softeisläden, Andenken-Shops, Restaurants und Lagerhallen. Ich fließe eine Weile im Touristenstrom, bevor ich mir auf dem Deich, hinter dem deplatziert wirkenden Hochhaus eine ruhige Ecke suche: Diese Menschenmasse hatte ich nicht erwartet. Darüber hinaus werden auch meine Vorstellungen von einem beschaulichen Fischerdorf überschrieben – ja, es gibt einen Leuchtturm und ein paar Fischerboote, aber ich merke, dass hier eher die Romantik des Pauschaltourismus vorherrscht.

Am nächsten Morgen starte ich früh. Der Ort hat sich verwandelt: Die Einheimischen bereiten sich auf den nächsten Ansturm der Touristen vor und ich nutze die relative Ruhe für einen kurzen Besuch der Kirche. Dann geht es am Deich entlang nach Norden. Ich will bis Sankt Peter-Ording radeln, wohl wissend, dass dort mindestens so viele Menschen Urlaub machen wie in Büsum.

Nördlich von Büsum treffe ich nur noch wenige Menschen, meist sind es E-Bike-Fahrer/innen, die sich in das sonst nur von Schafen besiedelte Niemandsland zwischen den Touristen-Hotspots wagen. An einem Gatter steht eine Gruppe älterer Damen und eine begutachtet mit Kennerblick mein Faltrad. Ich fühle mich unwillkürlich an die Anfänge von »Wetten das?« erinnert (vor etwa 40 Jahren), als die Deutschen noch mindestens dieses eine Generationen übergreifende Erlebnis teilten und darüber miteinander reden konnten. Radfahren als neue Generationen verbindende Größe, das könnte durch das E-Bike, das allen Altersgruppen das Zurücklegen größerer Entfernungen ermöglicht, vielleicht gelingen. Eine schöne Vorstellung.

Einfach nur am Meer entlang radeln, durch Sand und Salzwiesen streifen, dem Wasser beim Näherkommen zusehen – solange, bis der Horizont sich im Dunst verliert und man realisiert, dass das auch schlechteres Wetter bedeuten könnte. Der Blick auf das Smartphone bestätigt mir, dass es abends regnen soll, einige Stunden vergangen und noch einige Kilometer bis Sankt Peter-Ording zu radeln sind.

Das Wetter ist grau, das Fremdenverkehrsbüro hat kein Zimmer für mich, mein Smartphone keinen Internet-Empfang und die naheliegenden Jugendherbergen sind telefonisch noch nicht erreichbar. Außerdem drängen noch viel mehr Touristen durch Sankt Peter-Ording als am Vorabend durch Büsum. Die Radtour beginnt ihre Leichtigkeit zu verlieren. Ich beschließe deshalb einen Tag früher als geplant nach Hause zu fahren. Im Fremdenverkehrsbüro – dort gibt es WLAN – buche ich einen Zug zurück. Mitten in der Nacht werde ich mit einem Sparpreis-Ticket in Hamburg starten. Die Zeit bis dahin ist ebenfalls schnell geplant: Ich fahre nach Glückstadt zurück und nehme von dort den letzten Zug nach Hamburg.

Als ich in der Regionalbahn sitze, schlagen Regentropfen gegen die Scheiben, das macht den Abschied leicht und zerstreut die Zweifel an meiner Entscheidung. Die Fahrt vom Bahnhof zum Stadtkern von Glückstadt ist irritierend: Mir scheint es so, als sei ich gerade erst hier vorbeigekommen. Und tatsächlich ist kaum mehr als ein Tag vergangen. Wie dicht gedrängt die Erlebnisse waren, lasse ich während des Abendessens auf dem wunderschönen Marktplatz noch einmal an mir vorüber ziehen. Dann noch eine kleine Tour an der Elbe entlang und abends zum Abschied ein Radler (das hier Alster heißt) am Hafen. Glückstadt hat das Flair, das ich in Büsum vermisst habe. Als das Lokal schließt, starte ich zum Bahnhof. In Hamburg angekommen bleibt noch Zeit für eine nächtliche Radtour durch die Speicherstadt zur Elbphilharmonie. Außer mir sind nur noch ein paar Jugendliche auf E-Scoutern unterwegs. Überall auf den Wegen liegen die Mietroller verstreut, ganz neu zugelassen und schon gedankenlos genutzt. »Der letzte Kilometer« soll mit ihnen überbrückt werden, so die Phantasie des Marketings. Die Menschen, die an so etwas glauben, sind vermutlich noch nie Faltrad gefahren. Denn mit ihm kann man nicht nur den letzten Kilometer, sondern komplette Radtouren bestreiten.

Ist der Text oben nicht lediglich eine Aneinanderreihung unzusammenhängender und beliebiger Aspekte? Ja und nein: Die beschriebenen Impressionen sind einige von denen, die mir im Gedächtnis geblieben sind, die geschilderten Gedanken während des Radelns irgendwie daraus erwachsen. Keine durchgehende Erkenntnis, nicht wirklich objektivierbar und doch gerade deshalb vielleicht spannend für weiteres Nachdenken. Funktioniert das Reisen nicht letztlich genau so? Radfahren ist dafür eine ideale Form: schnell genug, um vielfältige Eindrücke sammeln zu können und langsam genug, um sich darüber Gedanken machen oder auch gedankenverloren aufatmen zu können – insbesondere, wenn man die Planung auf ein Minimum beschränkt, sich selbst Grenzen setzt (z. B. dadurch, dass man alleine reist und damit eher die Kommunikation mit Fremden sucht) und offen für zunächst vielleicht abwegige Assoziationen bleibt.