“Mein Theater ist nicht interpretierbar. Aber jeder kann sich seine Gedanken darüber machen” – Eine Begegnung mit Robert Wilsons formstrengen Theaterkonzept
Sterntaler, Die zertanzten Schuhe, Rapunzel, Aschenputtel, Hänsel und Gretel, Rumpelstilzchen – ein buntes Repertoire von Grimms Märchen, jedem gut bekannt. Und auch den dubiosen Sandmann kennt das ein oder andere belesene Individuum. Aber wer hat sich denn Nathanael je ganz in Rot und totenbleich vorgestellt?
Den DS-Kurs der E2 empfängt eines Dienstags eine besonders gut gelaunte Frau Ziegler, den Grund dafür sieht man an die Wand gestrahlt. Es ist die Inszenierung “Der Sandmann” von Robert Wilson, einem amerikanischen Regisseur, der alles auf der Bühne antinaturalistisch darstellt. Architektonisch konstruierte Räume, marionettenhafte Figuren und alles strahlt weiß oder rot – die Stimme von Christian Friedel (Nathanael) dröhnt in dem Song ‘There’ll be a horror’ durch den Raum, bevor der Student bereits in der ersten Szene droht, einen nicht weniger grotesk gestalteten Coppola die Treppe herunterzuwerfen. Ganz gleich, ob nun Olimpia der Hof gemacht wird, Nathanael mit Siegmund die neue Wohnung besichtigt oder er gar im Wahn Clara die Turmgalerie herabwerfen will, jedes einzelne Bühnenbild und jede Szene hat etwas Unerwartetes an sich, etwas nicht wirklich Interpretierbares. Die Schülerinnen und Schüler drücken ihre Begeisterung in höchst positivem Feedback dem Gesehenen gegenüber aus.
In den nächsten Stunden setzen sie sich mit dem Regisseur und seiner Arbeit auseinander: Wie geht Wilson mit Raum, Licht, Zeit, Bewegung und Sprache um? Worin die spielpraktische Prüfung bestehen soll, ist klar: Eine Inszenierung in Wilsons Stil selbst gestalten, es soll ein Märchen der Gebrüder Grimm sein. Die Schülerinnen und Schüler stürmen in sechs Gruppen die Schule, erste Bewegungen werden einstudiert, der Text auf ein Minimum reduziert, die ersten “Bilder” entworfen, erste Überlegungen für Masken und Kostüme diskutiert, Termine für Treffen und Proben gesucht. Alles läuft nach einem Prinzip der Spontaneität und des ständigen Ausprobierens.
Am 01.04., eine Woche später, ist es so weit. Alles muss zügig gehen, eine knappe halbe Stunde zum Schminken und Umziehen, danach ein rascher Fototermin auf dem Unterstufenpausenhof. Frau Ludwig hatte sich bereit erklärt, den Kulturkeller einem Haufen nicht wiedererkennbarer Gestalten zu überlassen. Die Schülerinnen und Schüler stellen ihre Ergebnisse vor: Formale, stilisierte Szenen, die sich leichtfertigen Deutungsversuchen entziehen. Erste Reaktionen meinen sie in den geschminkten Gesichtern ihrer Mitschüler im Kontrast zur Schwärze des Raumes zu erkennen. Applaus zwischen den Stücken, Anspornen und affirmative Glückwünsche hallen geflüstert durch den abgedunkelten Zuschauerraum.
Es klingelt, die Doppelstunde ist vorüber – und somit auch die Unterrichtseinheit zu Robert Wilson. Nichts deutet noch auf die Gruppe gespenstischer Figuren hin, die durch die Gänge huschten.
Borbala Dudas/ stellvertretend für den DS-Kurs