Vortrag von Rudolf Henneböhl
Am Vorabend des Tags der Antike war Rudolf Henneböhl, ehemaliger Lateinlehrer und Verleger, zu Gast in unserer Schule und hielt in der Aula einen öffentlichen Vortrag über die Bedeutung des Lateinischen in Antike und Gegenwart.
Herr Henneböhl beleuchtete zunächst allgemein den Zusammenhang von Sprache und Bewusstsein auf der Grundlage neurobiologischer Erkenntnisse.
Der „Schatz der lateinischen Sprache“ liege darin, komplexe Sachverhalte in Sprache fassen zu können, da sie ein Modell von Sprache darstelle und das strukturelle Denken schule. Die Kenntnis der lateinischen Sprache ermögliche daher auch das Verständnis komplexer Texte, wie der Referent an einem kurzen Text Kants eindrucksvoll zeigte.
Dass Schülerinnen und Schüler beim Lernen lateinischer Vokabeln zugleich ein tieferes Verständnis römischen Denkens gewinnen, illustrierte Herr Henneböhl anschaulich an verschiedenen lateinischen Wörtern. So bedeutet zum Beispiel das Wort „pupilla“ sowohl „Püppchen“ als auch im übertragenen Sinn „Pupille“ – aufgrund der verkleinerten Spiegelung des Selbstbildnisses im Auge des Gegenübers.
Der Vortragende legte dar, dass sich etwa ein Drittel der deutschen Sprache auf lateinische Wörter zurückführen lässt, und verwies auf die Fülle an Lehn- und Fremdwörtern.
Latein sei die europäische Stammsprache und erleichtere daher auch das Erlernen der romanischen Sprachen. Darüber hinaus eröffne das Lateinische das Verständnis vieler englischer Wörter, wie Henneböhl an einigen Attributen, die Donald Trump zugeschrieben werden, zeigte. Das englische Wort „belligerent“ beispielsweise geht auf den lateinischen Ausdruck „bellum gerere“ zurück und heißt eigentlich „jemand, der Krieg hineinträgt“.
Herr Henneböhl plädierte deswegen dafür, beim schulischen Lernen frühzeitig Synergieeffekte zwischen Latein und Englisch zu nutzen.
Im Folgenden führte Herr Henneböhl dem Publikum, das dem lebendigen Vortrag gebannt lauschte, die existenzielle und psychologische Dimension der lateinischen Literatur vor.
Anhand des Beginns der ersten Rede Ciceros gegen Catilina demonstrierte er beispielsweise sehr eindrucksvoll die Kraft und Wirkung der Rhetorik, die in der Antike als „höchste Sprachform“ galt. Dabei öffnete der Referent sowohl Augen als auch Ohren der Anwesenden für den gezeigten Text, indem er einzelne Passagen mit der passenden Betonung laut nachsprechen ließ.
An einem Textbeispiel aus Ovids Metamorphosen wurde die tiefenpsychologische Dimension lateinischer Literatur deutlich: Der wunderschöne Narcissus, der „die Zuneigung von anderen heraussaugt“, ist liebesunfähig, wie sich in seiner Begegnung mit Echo zeigt, die als Inbegriff eines schüchternen Mädchens zu keiner eigenen Aussage fähig ist. Psychologisch meisterhaft habe Ovid die innere Situation des Narcissus und der Echo sprachlich gestaltet. Diese Metamorphose thematisiere nicht nur den Narzissmus als psychisches und soziales Phänomen, sondern enthalte auch viele Motive, die insbesondere für junge Menschen von existenzieller Bedeutung sind.
Die Auseinandersetzung mit lateinischen Texten fördere daher auch die Entwicklung der emotionalen Intelligenz und leiste einen wichtigen Beitrag zur „humanistischen“ – d.h. auf den Menschen bezogenen – Bildung. Diese sei zweckfrei und führe im Gegensatz zur Ausbildung nicht auf ein Ziel hin, sondern helfe uns dabei, Werte und Lebensziele zu bestimmen und uns mit unserer eigenen Seele auseinanderzusetzen. Der Verlust einer solchen Bildung durch rein zweckhaftes pädagogisches Denken, so betonte Herr Henneböhl abschließend, stelle eine Tragik des momentanen Bildungssystems dar.
Mit langanhaltendem Applaus würdigte das Publikum den tiefgründigen, sehr fundierten und äußerst inspirierenden Vortrag des Referenten.
Dr. Barbara Wehner-Gutmann